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1 Jahr Hilfen für ukrainische Geflüchtete

Von Diakoniepfarrer Andreas Müller

VON DIAKONIEPFARRER ANDREAS MÜLLER

Der Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, hat unendliches Leid über die Ukraine gebracht und eine gewaltige Fluchtbewegung ausgelöst. Mehr als 14 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Über sieben Millionen Menschen sind außer Landes geflohen. In Deutschland sind inzwischen mehr als 850.000 geflüchtete Menschen angekommen. Zugleich hat das autoritäre und imperiale Handeln von Seiten Russlands zu einer bewussteren Wahrnehmung der europäischen Werte geführt und eine große Hilfsbereitschaft für die Ukraine und für die Geflüchteten ausgelöst.

Ich habe als Diakoniepfarrer in mehreren Rundmails Gemeinden, Dienste, diakonische Einrichtungen und Initiativen über den jeweils neuesten Stand der Entwicklung und der Hilfsnotwendigkeiten und -möglichkeiten informiert. Kirchengemeinden und Kirchenkreis haben schnell mit Friedensgebeten und Mahnwachen, mit Benefizkonzerten und Sammlungen und auf viele andere Arten ihre Solidarität mit den Menschen in der Ukraine gezeigt und sich für ein Ende des Krieges eingesetzt. Am Anfang ging es vor allem um Hilfsmöglichkeiten in der Ukraine und den Nachbarstaaten.

Von Seiten der Diakonie haben wir in Essen dafür auf die professionelle Erfahrung der Diakonie Katastrophenhilfe gesetzt, die die Organisation und Ver-teilung von Hilfen über das bewährte Netzwerk von Partner*innen vor Ort durchführt. Die Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt weiterhin Vertriebene innerhalb der Ukraine als auch Geflüchtete in den angrenzenden Nachbarstaaten Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien und der Republik Moldau.

In kürzester Zeit kamen auch in Essen Geflüchtete aus der Ukraine an. Anfang April waren rund 4.000 Geflüchtete in Essen registriert, Anfang Mai über 5.000 und im Juni über 6.000 Personen, wobei die Anzahl neuer Flüchtlinge zurückgeht. Aktuell haben rund 7.900 ukrainische Geflüchtete in Essen ein neues Obdach gefunden. Rund 70 Prozent davon sind Frauen, ein Drittel sind Kinder und Jugendliche - die überwiegende Anzahl davon Schulkinder. Damit haben innerhalb weniger Monate schon mehr Menschen in Essen Zuflucht gefunden als in den Jahren 2015 und 2016. Erstaunlicherweise konnten anfangs rund 70 Prozent von ihnen, jetzt eher 65 Prozent, privat unterkommen. Das ist ein Ausdruck davon, wie groß und zum Teil überwältigend die Hilfsbereitschaft in der ganzen Stadtgesellschaft für diese Geflüchteten in Essen ist.

Natürlich haben sich auch evangelische Christ*innen, die Kirchengemeinden, Einrichtungen und Dienste in einem hohen Maße an Hilfsaktionen in einer großen Vielfalt von Formen beteiligt. Sie haben Wohnungen bereitgestellt, konkrete Hilfsaktionen unterstützt, Geld, Kleidung oder anderen Sachspenden gesammelt, Benefizveranstaltungen durchgeführt, Ehrenamtliche motiviert und vermittelt, Räume für Treffen mit Ukraine-Geflüchteten geöffnet oder sie direkt in Gemeindehäuser eingeladen. Das sind nur wenige Beispiele für das, was Kirchengemeinden alles auf die Beine gestellt haben.

Um allen Geflüchteten eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, hat die Stadt Essen innerhalb kürzester Zeit Kapazitäten in den bestehenden Übergangswohnheimen erweitert und zusätzliche Behelfsunterkünfte eingerichtet. Das Diakoniewerk Essen hat im Übergangswohnheim an der Hülsenbruchstraße in Altenessen die Anzahl der Plätze von 120 auf 200 Plätze erhöht und die stillgelegte Unterkunft in der Ruhrtalstraße in Kettwig mit 100 Plätzen wieder eröffnet. Auch in den beiden Übergangswohnheimen in der Papestraße in Holsterhausen sowie in der Lerchenstraße in Werden werden ukrainische Flüchtlinge betreut. Die Johanniter-Unfallhilfe betreibt die neue Behelfsunterkunft im Kardinal-Hengsbach-Haus in Werden mit mehr als 200 Plätzen.

Über die Beratung für Neuzugewanderte, mit der das Diakoniewerk Essen und die cse mit je 15 Vollzeitstellen im ganzen Stadtgebiet Menschen berät, die vor weniger als fünf Jahren in unserer Stadt zugewandert sind, werden auch ukrainische Geflüchtete unterstützt. Ein mobiles Team ist darüber hinaus speziell für Geflüchtete aus der Ukraine da. Sie beraten, begleiten bei der Wohnungsvermittlung, stellen Anträge etwa bei der Aktion Lichtblicke, unterstützen Treffpunkte in den Stadtteilen, koordinieren Angebote für ehrenamtliches Engagement und waren in den ersten Wochen als erste Anlaufstelle auf dem Bahnhof präsent. Auch Beratungsdienste wie die Integrationsagentur und die Migrationsberatung für Erwachsene beim Diakoniewerk oder die Jugendmigrationsberatung der Ev. Kirchengemeinde Essen Borbeck-Vogelheim werden nachgefragt.

Die Anzahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist im Vergleich zu den Jahren 2015/16 sehr gering. Dennoch wurden im Aufnahmeheim in der Jugendschutzstelle des Diakoniewerks in Bergerhausen befristet acht zusätzliche Plätze eingerichtet, die bislang ausreichen, um alle unbegleiteten Jugendlichen, egal aus welchem Herkunftsland, aufzufangen. Für Kinder im Kindergartenalter haben sich schon in den Vorjahren sogenannte Brückenprojekte, frühkindliche Fördergruppen in der Art von Spielgruppen bzw. Eltern-Kind-Gruppen, sehr bewährt. Sie helfen den betroffenen Kindern und ihren Familien und sorgen zugleich für Entlastung bei den noch nicht ausreichend vorhandenen Kita-Plätzen.

Der kurzfristige Ausbau der Brückenprojekte ist jedoch ins Stocken geraten, da die Fördergrundsätze des Landes sich dramatisch verschlechtert haben. Das Problem und die Dringlichkeit einer Lösung werden derzeit durch das Jugendamt und die AG Wohlfahrt vor Ort und über die jeweiligen Spitzenverbände auf Landesebene platziert.

Seit März hatte die gemeinsame Kleiderkammer von Diakoniewerk, Caritas und DRK im Diakoniezentrum Mitte in der Lindenallee eine erhöhte Nachfrage zu verzeichnen. Am ersten Aprilwochenende kam die riesige Hilfebereitschaft der Essener*innen für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in einer großen Sammelaktion zum Ausdruck, bei der mehr als zehn Tonnen Kleidung zusammenkamen. Auch die über das ganze Stadtgebiet verteilten dreizehn Diakonieläden von Diakoniewerk und Neuer Arbeit der Diakonie und die Möbelbörse des Diakoniewerks in der Stadtmitte werden von den Geflüchteten vermehrt genutzt.

Die Ökumenische Telefonseelsorge Essen verzeichnete gerade zu Beginn des Ukraine-Krieges eine steigende Anzahl von Anrufen, die den Krieg und seine Folgen zum Anlass hatten. Teilweise wurde in bis zu einem Fünftel aller Gespräche der Krieg in der Ukraine thematisiert. Während Angehörige der mittleren und älteren Generation überwiegend das Telefon wählten, um über ihre Angst und Sorge, aber auch ihr Unverständnis gegenüber dem Krieg zu sprechen, nutzten Menschen zwischen 20 und 40 Jahren häufig das Angebot der Mailseelsorge, um sich über diese Themen auszutauschen. Das von der Stadt erbetene ökumenische Seelsorge-Angebot für besondere Krisenfälle bei Geflüchteten aus der Ukraine wurde vom Kirchenkreis im April eingerichtet. Es wurde bislang allerdings nur sehr begrenzt angefragt.

Dieser Bericht kann das hohe Engagement auf allen Ebenen nur in Ausschnitten beschreiben. Schwer vorauszusagen ist, wie die Entwicklung weitergeht. Die meisten Geflüchteten wollen so schnell es geht zurück in die Ukraine. Allerdings weiß niemand, ob, wann und wie das je nach Kriegsverlauf und -dauer möglich sein wird. Der Status der Geflüchteten unterscheidet sich von denen aus anderen Ländern. Das macht es für die Betroffenen leichter, für die Behörden werden alle Hilfsmaßnahmen allerdings schwerer planbar.

Die Wahrscheinlichkeit für eine gelingende Integration ist bei vielen Geflüchteten aus der Ukraine relativ hoch, weil sie dafür gute Voraussetzungen mitbringen. Bei einigen Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern kommt hingegen das Gefühl auf, im Vergleich benachteiligt zu sein. Zudem wird sich zeigen, wie lange die bislang umwerfende Hilfsbereitschaft andauert, wenn die eigenen Kräfte an die Grenzen kommen, der Ukraine-Krieg lange andauert und seine Folgen sich immer mehr zeigen und wenn die Knappheit von Kita-Plätzen, Schulplätzen oder Wohnraum bei anderen Bevölkerungsgruppen als Konkurrenz erlebt wird. Bis jetzt verteilen sich die Geflüchteten durch die vielen privaten Unterkünfte neben den Flüchtlingsunterkünften in einem hohen Maße über das ganze Stadtgebiet.

Die Notwendigkeit des Engagements hat sich in den letzten Monaten ein wenig verändert, ist aber nicht weniger geworden. Dazu ein kurzes Schlaglicht: Im Dezember 2022 wurde die Anzahl der Plätze im reaktivierten Übergangswohnheim an der Ruhrtalstraße in Kettwig noch einmal um 75 Plätze erhöht; dieses Übergangswohnheim wird vom Diakoniewerk Essen betrieben. Die Kapazitäten im Kardinal-Hengsbach-Haus in Werden, das von den Johannitern betreut wird, wurden sukzessive von 222 auf 288 erhöht. Ein Grund für den nötigen Ausbau der Plätze liegt aber auch darin, dass zusätzlich zu den Geflüchteten aus der Ukraine auch die Zahl Geflüchteter aus anderen Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak in der zweiten Jahreshälfte 2022 deutlich angestiegen ist. Positiv kann heute vermeldet werden, dass der Stadt Essen zufolge Ende Dezember schon über 4.000 ukrainische Geflüchtete in eigenem Wohnraum untergekommen sind.

Die Herausforderung, vor der wir als Stadtgesellschaft, aber eben auch als Evangelische Kirche und Diakonie stehen, bleibt sehr groß. Noch größer aber ist Gottes Verheißung für die, die Fremde aufnehmen, das Leben und Gott selbst neu zu entdecken und die Geflüchteten als Bereicherung für unsere Gesellschaft zu erfahren.

 

 

 

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